Sie kennen nicht den zweithöchsten Berg Deutschlands?
Den höchsten Berg Deutschlands kennen Sie aber? Na klar, kein Problem. Es ist die Zugspitze (2.962 m)! Wenn ich Sie jetzt nach dem zweithöchsten deutschen Berg frage, wird die Sache schon komplizierter. Einige wenige werden wohl den Watzmann nennen (können). Das ist gar nicht schlecht, ist er mit seinen 2.713 m doch zumindest der höchste Berg, dessen Basis sich auf deutschem Staatsgebiet befindet. Allerdings gibt es auch noch den Hochwanner, dessen Gipfel auf der deutsch-österreichischen Grenze liegt und mit 2.744 m den Watzmann überragt. Sie haben diesen Namen noch nie gehört, obwohl Sie sich bislang für geografisch sattelfest gehalten haben? Und jetzt so was ... Wir Erdkunde-Lehrer möchten Sie direkt beruhigen – Sie sind schließlich kein Atlas. Überspitzt könnte man fast sagen: „Gut, dass unsere Schüler diesen Berg nicht kennen." Die Unterrichtsinhalte und die Lernzugänge des Faches Erdkunde haben sich enorm verändert.
Meine eigene Schulzeit liegt rund 20 Jahre zurück. Aus nostalgischen Gründen besitze ich noch mein Erdkunde-Schulheft aus der 5. Klasse. Wenn ich es durchblättere, erkenne ich manche Dinge wieder, die auch im heutigen Erdkundeunterricht ihren Platz haben: Das Zeichnen des eigenen Schulwegs, von Klimadiagrammen und Höhenlinien, die Behandlung des Gradnetzes und die Berechnung von Entfernungen auf Karten unterschiedlichen Maßstabs. Einen ungleich größeren Teil der Unterrichtszeit nahm damals jedoch die Atlasarbeit ein: Wir notierten eifrig die Hauptstädte aller europäischen Staaten, die europäischen Randmeere, die Inseln des Nordpolarmeers, die Länder mit einer Küste zur Ostsee, die europäischen Staaten ohne Meereszugang, die zum Schwarzen Meer führenden Flüsse und und und. Mein damaliger Lehrer legte sehr großen Wert auf topografische Kenntnisse! Ich gebe zu, dass ich mir vier große Flüsse, die zum Schwarzen Meer führen, dauerhaft gemerkt habe. Ihre Namen beginnen alle mit dem Buchstaben D: Donau, Dnjestr, Dnjepr und Don. Für einen Auftritt bei Günter Jauchs „Wer wird Millionär" bin ich damit wohl gut gewappnet!
Manches Mal beklagen Eltern im Gespräch, dass ihre Kinder so wenige topografische Kenntnisse hätten. Wahrscheinlich hatten diese Eltern einen ähnlichen Erdkundeunterricht wie ich (und haben im Zweifel ein besseres Gedächtnis). Ich entgegne dann in der Regel, dass ihre Kinder aber die aktuelle demografische Situation in Deutschland beurteilen könnten und über den Beitrag der Menschheit zum Klimawandel Bescheid wüssten. Daneben könnten sie einschätzen, welchen ökologischen Rucksack Erdbeeren aus Marokko trügen, die bereits im Februar bei uns verheißungsvoll in den Supermarktregalen stehen und unter welchen Bedingungen die z. T. irregulären Migranten bei der Tomatenernte im spanischen Almería arbeiteten. Schlussendlich verstünden sie, welche Ursachen die Emigration des Heers der Verzweifelten aus Afrika hat, die sich in einer „Nussschale" auf den Weg über das Mittelmeer machen. Kurzum: Das Fach Erdkunde hat sich von der Länderkunde zu einem Fach entwickelt, das die aktuellen Schlüsselprobleme unserer Welt behandelt.
In den möglichen Unterrichtsmethoden des Erdkundeunterrichts hat sich ebenfalls manches geändert. Natürlich wird dort nach wie vor kartiert, Atlaskarten werden analysiert und Filme helfen dabei, die Welt in den Klassenraum zu holen. Daneben kommt es zunehmend auf die Interpretation von Sachverhalten und Aushandlung von Positionen an: Wie im „richtigen Leben" müssen Entscheidungen und Beurteilungen vorgenommen werden, ohne allumfassende Informationen zu besitzen. Es gilt (auch fremde) Standpunkte einzunehmen und argumentativ zu vertreten. Erdkunde ist ein Kommunikationsfach.
In der 5. Klasse werden Karten wie gehabt mit Buntstiften ausgemalt. In höheren Klassen jedoch erstellen die Schüler heute ihre eigenen thematischen Karten mithilfe von Geographischen Informationssystemen (GIS) („Wo sind die strukturschwachen Regionen der Europäischen Union gelegen?") und präsentieren der Klasse die selbst gestaltete Karte über den Beamer. Wer ein solches Informationssystem für Daten mit Raumbezug verwendet, kann besonders aktuell arbeiten, schließlich vergehen oft Jahre, bis eine neue Atlasausgabe erschienen ist.
Das Internet ist die Quelle für auf den neuesten Stand gebrachte Informationen: Wie haben sich die Baumwoll- und Hirsepreise in Mali in den letzten 20 Jahren entwickelt? Die Datenbank der FAO (Food and Agriculture Organisation der UN) gibt Auskunft. Sollen die malischen Bauern für den Export oder die Selbstversorgung produzieren? Das eigene Diagramm, per Hand gezeichnet oder mit einem Tabellenkalkulationsprogramm entworfen, veranschaulicht die Entwicklung und vereinfacht die Entscheidungsfindung.
An unserer Schule haben wir blendende Möglichkeiten, (diese immer noch) „Neue Medien" (genannten Mittel) für den Erdkundeunterricht einzusetzen. In fünf Räumen können die Schüler am PC arbeiten und mobile Computer machen es möglich, Schüler-Präsentationen und Unterrichtsfilme in jedem Klassenraum vorzuführen. Ist es Nostalgie, dass wir um den „Projektionsraum" trauern, der einem normalen Klassenraum gewichen ist? Das waren die besonderen Momente, wenn Filme durch den 16-mm-Projektor ratterten. Die Konkurrenz von Fernsehen und Internet war bei weitem nicht so groß wie heute, die Bilderflut noch überschaubar, das Interesse der Schülerinnen und Schüler an Eindrücken aus fremden Ländern größer. Nicht nur der Aufbau des Projektors entfällt heute für uns Lehrer. Auch den Weg zur Kreis-Bildstelle können wir uns sparen, da Unterrichtsfilme inzwischen digital vorliegen und auf dem USB-Stick in die Klasse transportiert werden können.
Soweit, so gut. Allerdings stellen wir leider oft fest, dass unser Fach, das bei zahlreichen Fünftklässlern zu den Lieblingsfächern zählt, in der Oberstufe selten gewählt wird. Liegt es an der Wahrnehmung der Erdkunde als „Problem-Fach"? („Was ist das nächste Problem, das wir nicht lösen können?") Oder ist es die fehlende Lobby der Geografen? Die Fächer Geschichte und Sozialwissenschaften sind in der Oberstufe als Pflichtbelegung zu wählen. Wer Erdkunde wählt, muss jedes dieser beiden anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächer zwei Halbjahre lang, im Zweifel als Zusatzkurs in der Jahrgangsstufe 13, belegen. Die freie Wahl haben die Schüler also nicht: Die Belegung von Erdkunde bedeutet einen zusätzlichen Aufwand. Man muss die Erde schon lieben, um sich auf ihr weiter kundig machen zu wollen.